Medizinnobelpreis 1974: Albert Claude — Christian de Duve — George Palade

Medizinnobelpreis 1974: Albert Claude — Christian de Duve — George Palade
Medizinnobelpreis 1974: Albert Claude — Christian de Duve — George Palade
 
Das belgisch-amerikanische Wissenschaftlerteam erhielt den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie für »seine Entdeckungen zur strukturellen und funktionellen Organisation der Zelle«.
 
 Biografien
 
Albert Claude, * Longlier (Luxemburg) 23. 8. 1899, ✝ Brüssel 22. 5. 1983; ab 1950 Leiter des Jules-Bordet-Instituts für Krebsforschung an der Freien Universität Brüssel, gleichzeitig am Katholischen Krankenhaus in Louvain (Belgien).
 
Christian René de Duve, * Thames-Ditton (Großbritannien) 2. 10. 1917; ab 1947 Professor an der Katholischen Universität in Louvain (Belgien), ab 1951 dort Leiter des Instituts für physiologische Chemie, ab 1962 Professor für Biochemie am Rockefeller Institute in New York.
 
George Emil Palade, * Jassy (Rumänien) 19. 11. 1912; ab 1935 Professor für Anatomie an der Universität in Bukarest, ab 1956 Professor für Zellbiologie am Rockefeller Institute in New York, ab 1973 Professor für Zellbiologie an der Yale University in New Haven (Connecticut), ab 1990 Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät an der University of California in La Jolla.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Manchmal hilft ein genauerer Blick auf etwas Altbekanntes, um das Leben etwas besser zu verstehen. So jedenfalls ging es Albert Claude, Christian de Duve und George Palade, als sie mit neuen Methoden das Innere von Zellen untersuchten. Ganz neue Welten taten sich in den mikroskopisch kleinen Partikeln auf. Allmählich begann man zu begreifen, wie raffiniert Zellen aufgebaut sind und welch komplizierte chemische Reaktionen darin ablaufen müssen, damit ein Organismus am Leben bleibt. Solche grundlegenden Erkenntnisse trugen den drei »Vätern der Zellbiologie« 1974 den Nobelpreis für Medizin ein.
 
 Neue Methoden zur Erforschung von Zellen
 
Zwar hatten Wissenschaftler schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts Zellen unter dem Lichtmikroskop betrachtet und so einiges über deren Aufbau und innere Struktur erfahren, doch solche Untersuchungen genügten nicht, um wirklich zu verstehen, was in Zellen vorgeht. Erst in den 1930er- und 1940er-Jahren kamen zwei neue Untersuchungsmethoden auf, die die Biologie entscheidend voranbrachten. Elektronenmikroskope, die seit 1939 in Serie produziert wurden, ermöglichten einen viel genaueren Blick ins Innere der Zellen, als es mit einem normalen Lichtmikroskop möglich ist. Gleichzeitig erlaubte ein neues Verfahren, Zellen in ihre Bestandteile aufzutrennen, um diese dann genauer analysieren zu können. Bei dieser Trennmethode nutzen die Forscher die Tatsache, dass Zellen aus unterschiedlich großen und schweren Bausteinen bestehen. In einer Lösung setzen sich die verschiedenen Bestandteile daher unterschiedlich schnell ab. Zuerst sinken die schweren Zellkerne zu Boden, anschließend folgen nach und nach die leichteren Bestandteile. Diesen Prozess kann man in einer Zentrifuge beschleunigen, einem Apparat, in dem die Untersuchungsgefäße mit hoher Geschwindigkeit kreisen.
 
Albert Claude war einer der Ersten, der beide Methoden systematisch einsetzte. Mitte der 1940er-Jahre veröffentlichte er erste elektronenmikroskopische Bilder von Zellen und deren Bestandteilen. Er war damit der Vorreiter auf dem Gebiet der modernen Zellforschung. Seine Forschungsrichtung wurde von seinen jüngeren Kollegen Palade und de Duve aufgegriffen und weiterentwickelt. Auf diese Weise entdeckten die Forscher eine ganze Reihe von bis dahin unbekannten Zellbestandteilen.
 
 Entdeckung kleiner Körnchen
 
George Palade stieß bei seinen Untersuchungen auf kleine Körnchen, die so genannten Ribosomen. Die unscheinbaren Partikel, von denen eine durchschnittliche Säugetierzelle mehr als zehn Millionen besitzt, erwiesen sich mit der Zeit als besonders wichtige Zellbestandteile. Denn Ribosomen sind die Eiweißfabriken des Organismus. Hier werden Erbinformationen abgelesen und in die entsprechenden Proteine übersetzt. Jedes Ribosom besteht aus zwei Untereinheiten, zwischen denen sich ein kleiner Spalt befindet. Durch diesen Spalt zieht sich wie ein dünner Faden eine Nucleinsäure, die Boten-RNS (auch m-RNA; das A steht für das englische Acid für Säure). Auf diesem langen Molekül ist verschlüsselt, in welcher Reihenfolge Aminosäuren zu einem bestimmten Eiweiß zusammengesetzt werden sollen. Das Ribosom liest diese Bauanleitung ab und produziert das entsprechende Protein.
 
 Die Verdauung der Zellen
 
Bei seinen Untersuchungen über Ribosomen war Palade von einer Zellstruktur ausgegangen und hatte dann nach deren chemischen Funktionen gesucht. De Duve dagegen wählte den umgekehrten Weg, er schloss aus seinen biochemischen Erkenntnissen auf neue Zellstrukturen. Wenn er seine Proben aus der Zentrifuge holte, fand er immer wieder eine Gruppe von Enzymen, die in ihrem Sedimentationsverhalten zu keinem der bekannten Zellbestandteile passen wollten. Alle diese Enzyme hatten eines gemeinsam: Sie bauten Zellbestandteile ab. Damit war de Duve klar, dass sienicht frei herumliegen konnten, ohne die Zelle zu beschädigen. Viel wahrscheinlicher war es, dass sie in kleine, von einer Membran umgebene Partikel eingeschlossen waren. Tatsächlich konnte de Duve diese Partikel unter dem Elektronenmikroskop aufspüren. In manchen Zellen fanden sich mehrere hundert davon. Sie erhielten den Namen »Lysosomen«.
 
Dieser Name verrät Experten schon einiges über die Funktion der Teilchen. Lysosomen sind in der Zelle zuständig für die »Hydrolyse«, also die Spaltung von Substanzen mithilfe von Wasser. Viel anschaulicher lassen sich diese Vorgänge unter dem Schlagwort »Verdauung« zusammenfassen. Jedes Lebewesen muss die Bestandteile seiner Nahrung abbauen. Dabei gilt es zum Beispiel, Eiweiße in Aminosäuren oder Kohlenhydrate in ihre Zuckerbausteine zu spalten. Allerdings werden solche Moleküle von recht starken Bindungen zusammengehalten, die normalerweise nur bei hohen Temperaturen oder unter der Einwirkung von Säuren oder Laugen aufbrechen. Solche Bedingungen kann natürlich kein Organismus in seinen Zellen verkraften. Er braucht daher Eiweiße, die wie biologische Katalysatoren seine Verdauungsreaktionen erleichtern, die Enzyme. Diese Enzyme haben sehr spezifische Wirkungen, denn sie sind jeweils auf die Spaltung einer ganz bestimmten Art von Bindung eingerichtet. Bei der Vielzahl von chemischen Komponenten, aus denen die Nahrung besteht, braucht der Organismus also auch ein ganzes Sortiment verschiedener Enzyme. Erst wenn diese gemeinsam oder nacheinander auf die Nahrung einwirken, kann diese zu verwertbaren Bestandteilen verdaut werden. Dementsprechend finden Biochemiker in jedem Lysosom die verschiedensten Enzyme. Inzwischen wurden mehr als 50 identifiziert.
 
Die Arbeit der drei Preisträger hat nicht nur zum Verständnis von Stoffwechselkrankheiten beigetragen. Eine ganze Reihe weiterer medizinischer Disziplinen von der Pharmakologie über die Gerontologie (Alterslehre) bis hin zur Krebsforschung konnte von ihren Ergebnissen profitieren. Mit seinen Erkenntnissen über das Ribosom legte Palade den Grundstein für die moderne Genetik. Mit den Methoden und Erkenntnissen der »Väter der Zellforschung« begann in der Biologie ein neues Zeitalter.
 
R. Knauer, K. Viering

Universal-Lexikon. 2012.

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